Ist Plastik schuld an der modernen Fruchtbarkeitskrise?
Die modernen Gesellschaften sind süchtig nach Plastik geworden. Jedes Jahr werden etwa 130 Millionen Tonnen produziert - und damit etwa doppelt so viel Abfall wie noch vor zwei Jahrzehnten, so die OECD. Eine Studie von Minderoo aus dem Jahr 2021 ergab, dass der durchschnittliche Amerikaner jährlich 50 kg Plastik kauft und wegwirft. Laut Statista liegt "Deutschland [...] mit knapp 40 Kilogramm Pro-Kopf deutlich über dem Durchschnitt."
Trotz des Umweltbewusstseins werden nur 15 % der Kunststoffabfälle für das Recycling gesammelt und nur 9 % werden tatsächlich recycelt, so die OECD. Der Rest landet auf unkontrollierten Mülldeponien, wird verbrannt, verschmutzt die Luft, den Boden und das Wasser.
Obwohl es Plastik erst seit 60-70 Jahren gibt, findet man es in jedem Winkel der Erde. Das liegt daran, dass es laut WWF Hunderte von Jahren dauern kann, bis es sich zersetzt, wenn es sich überhaupt zersetzt. Wenn es sich zersetzt, zerfällt es in winzig kleine Teile, die als Mikro- oder Nanokunststoffe bezeichnet werden und gefährliche Chemikalien in die Umwelt freisetzen können.
Eine Studie der Universität von Newcastle hat ergeben, dass der durchschnittliche Mensch pro Woche bis zu fünf Gramm Plastik isst, trinkt und einatmet - das entspricht einer Kreditkarte. Die Auswirkungen auf die Gesundheit werden noch untersucht, aber die Wissenschaftler warnen, dass dies Auswirkungen auf unsere Gesundheit und die künftiger Generationen haben könnte.
Die durchschnittliche Spermienzahl bei Männern hat sich in den letzten 40 Jahren halbiert. Dr. Shanna Swan, Professorin für Umweltmedizin und öffentliche Gesundheit an der Mount Sinai School of Medicine in New York, sagt, dass Plastik wahrscheinlich ein wichtiger Faktor für diesen Rückgang ist.
Eine europäische Studie aus dem Jahr 2022 hat ergeben, dass Männer "erstaunliche Mengen" eines Cocktails von Chemikalien in ihrem Körper haben, die bis zu 100 Mal höher sind als die als sicher geltenden Werte. Bisphenol A (BPA), das in Plastik vorkommt, war für das höchste Risiko verantwortlich und ist die besorgniserregendste Chemikalie.
Die Anzahl der Spermien ist nicht der einzige Faktor, der die Fruchtbarkeit bestimmt, sondern auch die Qualität des Spermas. In der gleichen europäischen Studie wurde bei 100 dänischen Männern ein Zusammenhang zwischen diesem weit verbreiteten Chemikaliencocktail und einer schlechten Spermienqualität festgestellt. BPA war der größte Risikofaktor, gefolgt von Dioxinen (die bei der Verbrennung von Abfällen in die Luft gelangen), Paracetamol (wie Tylenol) und Phthalaten (ebenfalls aus Kunststoffen).
Dr. Swan sagt, eine der größten Gefahren für die männliche Fruchtbarkeit seien Phthalate, Chemikalien, die Kunststoffen zugesetzt werden, um sie flexibler zu machen. Sie sind besonders riskant, weil sie nachweislich das Testosteron senken.
Der Mount Sinai Epidemiologe sagt, dass es einen direkten Zusammenhang zwischen der Phthalat-Exposition im Mutterleib und Fruchtbarkeitsstörungen bei Männern gibt. Wenn schwangere Frauen bestimmten Chemikalien ausgesetzt sind, die häufig in Kunststoffen vorkommen, wie z.B. Phthalate, kann sich bei männlichen Nachkommen der Abstand zwischen Anus und Genitalien verringern, was mit einer niedrigen Spermienzahl in Verbindung gebracht wird.
Nagetiere, die Mikroplastik ausgesetzt waren, hatten eine schlechtere Spermienqualität als Folge der dadurch verursachten Entzündungen und oxidativen Stressschäden, so eine im International Journal of Environmental Research and Public Health veröffentlichte Studie. "Die möglichen Risiken für die reproduktive Gesundheit durch Mikroplastik sollten nicht ignoriert werden", warnte die Studie.
Studien weisen darauf hin, dass Frauen mit Fruchtbarkeitsproblemen höhere Werte von Bisphenol A (BPA) aufweisen, das häufig in Plastikflaschen, Konserven und Kassenbons enthalten ist. Dr. Swan sagt, dass es für Frauen besonders schädlich ist, weil es im Körper Östrogen nachahmt.
Einer wissenschaftlichen Studie zufolge ist die Rate der Fehlgeburten in den USA zwischen 1990 und 2011 um 1 % pro Jahr gestiegen, wenn man mütterliche Merkmale wie das Alter berücksichtigt. Dies kann sowohl von weiblichen als auch von männlichen Faktoren beeinflusst werden. Die Autoren kamen zu dem Schluss, dass weitere Studien erforderlich sind, um herauszufinden, warum.
Selbst bei Frauen, die schwanger werden können und eine Fehlgeburt vermeiden, hatten schwangere Frauen, die während der Schwangerschaft mehreren Phthalaten ausgesetzt waren, ein erhöhtes Risiko für eine Frühgeburt, so eine Studie der National Institutes of Health aus dem Jahr 2022.
Ausgehend von den aktuellen Trends bei der Fruchtbarkeit, die keine Anzeichen einer Verbesserung zeigen, prognostiziert Dr. Swan, dass die meisten Paare in den nächsten zwanzig Jahren auf künstliche Befruchtung angewiesen sein werden, um schwanger zu werden. Sie behauptet zwar nicht, dass dies ausschließlich auf Kunststoffe und verwandte Chemikalien zurückzuführen ist, aber sie vermutet, dass die Plastiksucht der Gesellschaft ein wichtiger Faktor ist.
Obwohl Plastik fast überall vorhanden ist, sagen Experten, dass die Belastung durch den Verzehr von unverarbeiteten Lebensmitteln, den Verzicht auf das Kochen mit Teflon und das Vermeiden des Erhitzens oder Mikrowellens von Plastik reduziert werden kann. Kosmetische Produkte können ebenfalls Phthalate enthalten, meist um Duftstoffe zu binden.
Dr. Swan sagt, dass diese Chemikalien zwar entfernt werden, aber immer wieder neue, noch nicht untersuchte Chemikalien auftauchen. "Wenn "BPA-frei" draufsteht, enthält es wahrscheinlich kein BPA. Aber beachten Sie, dass es nicht heißt "frei von Bisphenol". Sie könnten also immer noch Bisphenol S oder F enthalten, die bedauerliche Ersatzstoffe sind. Auch bei "frei von Phthalaten" würde ich misstrauisch werden. Während es vielleicht frei von den alten, bekannten Vertretern ist, ist es möglicherweise nicht frei von den neueren", sagte sie dem Guardian.
Noch nie in der Geschichte gab es mehr Menschen auf dem Planeten Erde. Dennoch ist in den letzten 50 Jahren ein "starker Rückgang der Geburten zu verzeichnen, der insbesondere in den Industrieregionen zu einem Bevölkerungsrückgang führen wird", heißt es in einem Nature-Artikel aus dem Jahr 2021. Die Daten zeigen, dass sich die menschliche Reproduktionsgesundheit in den industrialisierten Regionen verschlechtert, da man sich zunehmend auf Behandlungen wie IVF verlässt.
Foto: Humphrey Muleba/Unsplash
Zwar mehren sich die Hinweise darauf, dass Plastik die Fruchtbarkeit beeinflussen könnte, aber sie sind noch nicht 100 % bewiesen. Andere Hypothesen deuten auf ein höheres Alter der Mütter und sozioökonomische Faktoren wie teure Wohnungen, Geburtenkontrolle und die Arbeitsbedingungen von Frauen für den Rückgang der Geburtenrate hin. Auch andere Umweltfaktoren wie Düngemittel und Lebensstilprobleme wie Fettleibigkeit und Rauchen sollen eine Rolle spielen.