Studie: Wie geht es den ukrainischen Flüchtlingen in Deutschland?
Der seit 2014 schwelende russisch-ukrainischen Konflikt eskalierte am 24. Februar 2022, als russische Truppen in die Ukraine einmarschierten und damit den Krieg begannen. Es dauerte nicht lange, bis die ersten Menschen aus der Ukraine flüchteten, zunächst in die Nachbarländer.
Bis Dezember 2022 haben laut Schätzungen des UN-Flüchtlingskommissariats etwa 16,1 Millionen Menschen aufgrund des Krieges das Land verlassen. In den Grenzländern der Ukraine wurden etwa 4,73 Millionen Flüchtlinge registriert. So hat Polen mit mehr als 1,5 Millionen Menschen die meisten ukrainischen Geflüchteten aufgenommen, nach Tschechien kamen 463.000 Personen.
Seit März ist die Zahl der Ukrainer in Deutschland ebenfalls gestiegen. Am 31. August 2022 lebten laut Statistischem Bundesamt 976.000 Menschen aus der Ukraine in Deutschland.
Ende 2021 lebten noch 138.000 Menschen mit ukrainischer Staatsbürgerschaft - etwa 1,3% der ausländischen Bevölkerung - aus verschiedensten Gründen in Deutschland.
Durch den Krieg veränderte sich auch die ukrainische Bevölkerung in Deutschland, sowohl in Bezug auf Geschlecht als auch Alter. Vor allem seit Ende Februar sind Kinder überproportional häufig vertreten.
Doch wie geht es den Menschen? Und welche Zukunftspläne haben sie?
Das Forschungsprojekt "Geflüchtete aus der Ukraine" soll darüber Aufschluss geben. Damit etablieren das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung, das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, das Forschungszentrum des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge und das Sozio-ökonomische Panel am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung Berlin die bislang erste umfassende, repräsentative sozialwissenschaftliche Wiederholungsbefragung.
Gemeinsam haben die vier Kooperationspartner am 15. Dezember 2022 erste Ergebnisse als Kurzstudie im Rahmen einer Bundespressekonferenz vorgestellt und anschließend veröffentlicht.
Die Flucht aus der Ukraine erfolgt unter anderen Voraussetzung als bei vorherige Fluchtwellen. Neben der geografischen Nähe gelten für ukrainische Flüchtlinge andere Bedingungen, zum Beispiel visumsfreie Einreise und temporärer Aufenthalt ohne Asylverfahren. Deshalb lassen sich wissenschaftliche Erkenntnisse aus vorherigen Studien nur bedingt übertragen. Die aktuelle Studie soll nun eine wissenschaftliche Datengrundlage für politische Entscheidungsprozesse und Folgestudien schaffen.
Insgesamt wurden von August bis Oktober 2022 11.225 Ukrainer im Alter von 18 bis 70 Jahren befragt. Sie waren zwischen dem 24. Februar 2022 und dem 8. Juni 2022 nach Deutschland geflüchtet und bei den Einwohnermeldeämtern registriert. Die Fragebögen wurden online und in Papierformat sowie in Ukrainisch und Russisch bereitgestellt. Die Fragen bezogen sich auf alle Lebensbereiche der geflüchteten Ukrainer.
96% der Befragten gaben die Kriegshandlungen als Hauptgrund für ihre Flucht an. 18% entschieden sich für Deutschland, weil sie dort Familie oder Freunde haben. Für 10% der Ukrainer war die schlechte Wirtschaftslage für die Flucht ausschlaggebend.
Diese Ergebnisse lassen sich auch aufgrund der Herkunftsregionen bestätigen. Mehr als 66 % der Menschen stammen aus den stark vom Krieg betroffenen Gebieten in der Ost-Ukraine (32 %), Kiew (19 %) und der Süd-Ukraine (14 %).
Für 60% waren familiäre Beziehungen, Freunde und Bekannte das Hauptmotiv, sich für Deutschland zu entscheiden. Für andere war die Achtung der Menschenrechte (29 %), das Wohlfahrtssystem (22 %), das Bildungssystem (12 %), die Willkommenskultur (12 %) und die wirtschaftliche Lage in Deutschland (10 %) ausschlaggebend. 18% der befragten Flüchtlinge gaben an, nur zufällig in die Bundesrepublik gekommen zu sein. Gut 80 % der ukrainischen Geflüchteten sind gemeinsam mit Familienangehörigen, Freunden oder Bekannten geflohen, 61 % mit Lebenspartner und minderjährigen Kindern.
Mit einem Durchschnittsalter von 28 Jahren waren die Geflüchteten deutlich jünger als die Gesamtbevölkerung der Ukraine (41 Jahre). Der Frauenanteil war ebenfalls viel höher: 80 % der Geflüchteten sind Frauen zwischen 18 und 70 Jahren.
Zum Zeitpunkt der Befragung lebten 74% in Privatunterkünften, der Großteil allein oder mit ebenfalls geflüchteten Familienmitgliedern. 25% der eingereisten Ukrainer konnten bei ihrer Familie oder bei Freunden unterkommen, 15% bei anderen Personen. 17% lebten in Hotels und 9% in Unterkünften. 16% der Flüchtlingen wurde ihr Wohnort zugewiesen.
Ein weiterer Bestandteil der Kurzstudie war die Qualifikation und Erwerbstätigkeit der kürzlich angekommenen Ukrainer. Diese hatten ein deutlich höheres Bildungsniveau als die ukrainische Gesamtbevölkerung. 72% der eingereisten Ukrainer verfügten über einen akademischen Bildungsgrad wie Bachelor (13%), Master (52%) oder haben promoviert (4%).
Eine interessante Erkenntnis der Studie ist der Einfluss von Bildungsgrad und Unterkunft auf den Gesundheitszustand. So gaben 39% der Befragten an, dass es ihnen gut oder sehr gut gehe. Nur 10% gaben schlecht oder sehr schlecht an. Diejenigen, die ihren Gesundheitszustand als gut einstuften, waren jünger, Männer, Geflüchtete mit hohem Bildungsniveau oder lebten in einer privaten Unterkunft. Geflüchtete, die ohne Familie nach Deutschland gekommen waren, bewerteten ihren Gesundheitszustand schlechter als Flüchtlinge mit Kindern.
Etwa 60 % der Erwachsenen mit Kind oder Kindern gaben an, das ihr Kind viel lacht und Spaß hat. Bei 12% ist das nie oder selten der Fall. Verglichen mit den Referenzwerten von anderen in Deutschland lebenden Kindern sind die Ergebnisse bei ukrainischen Kindern aller Altersgruppen deutlich niedriger.
Anfang Dezember hat sich die Anzahl der aufgenommenen Kinder und Jugendlichen mehr als verzehnfacht und lag bei rund 201.600. Der 'Spiegel' berichtete Ende November, dass mehr als 200.000 ukrainische Kinder an deutschen Schulen aller Art unterrichtet werden.
Bei ihrer Ankunft in Deutschland haben sich laut Studie 33% "voll und ganz" willkommen gefühlt, 43% bewerteten ihre Erfahrungen mit "überwiegend" gut. Nur 7% fühlten sich "kaum oder gar nicht" willkommen. Hier gab es keinen signifikanten Unterschied zwischen den verschiedenen Gruppen.
Die Mehrheit der Flüchtlinge gab bei der Umfrage an, bereits eine Aufenthaltserlaubnis oder vorübergehende Aufenthaltserlaubnis zu besitzen. Somit hatten 90% der befragten Ukrainer zumindest eine befristete Aufenthaltserlaubnis bis März 2024. Nur 3% waren ohne Visa in Deutschland.
Von den Geflüchteten im erwerbsfähigen Alter hatten zum Zeitpunkt der Befragung 17 Prozent eine Stelle. 71 Prozent, gingen einer Tätigkeit nach, die einen Hochschul- oder Berufsabschluss voraussetzt. Sechs Monate nach dem Zuzug waren 18 % der ukrainischen Bevölkerung erwerbstätig, 2 % mehr als nach 3-monatigem Aufenthalt in Deutschland. 88 % der Geflüchteten arbeiteten im Dienstleistungssektor. Ein Drittel der Geflüchteten übte einen Beruf aus, der einen Hochschulabschluss erfordert. 71 % hatten einen qualifizierten oder hochqualifizierten Job, jedoch ist dieser Anteil deutlich geringer als vor dem Zuzug (93 %).
Acht von zehn Geflüchteten gaben an, keine oder schlechte Deutschkenntnisse zu haben. Nur 4% hatten gute oder sehr gute Sprachkenntnisse. Höher gebildete, erwerbstätige und jüngere Ukrainern stuften ihre Fähigkeiten höher ein als der Durchschnitt.
Zu Beginn der Kurzstudie besuchten 51% einen Deutschkurs, 35% einen Integrationskurs und 15% hatten sich für ein anderes Sprachangebot entschieden. Mit zunehmender Aufenthaltsdauer stieg auch die Zahl der Kursbesucher. Zwei Monate nach ihrer Ankunft lernten 9% Deutsch, nach vier Monaten 33% und nach einem halben Jahr 49%. Bei der Entscheidung für einen Deutschkurs war die Bleibeabsicht ein wichtiger Faktor. 57 % der Flüchtlinge, die langfristig in Deutschland bleiben wollten, besuchten bereits nach 6 Monaten einen Sprachkurs.
Etwa 50% der befragten Flüchtlinge verbrachten mehrmals in der Woche Zeit mit anderen Ukrainern, die nicht zur Kernfamilie gehörten. Dies war vor allem in der Altersgruppe der 31- bis 65-jährigen der Fall. Außerdem trafen sich 44% regelmäßig mit Deutschen, 15% blieben lieber unter sich. Geflüchtete mit guten Deutschkenntnissen, Erwerbstätige oder diejenigen, die eine Schule besuchten oder privat untergebracht waren, hatten am häufigsten Kontakt zu Deutschen.
88% der Geflüchteten hatten Beratungs- und Unterstützungsbedarf, vor allem beim Deutschlernen (49%), bei der Jobsuche (38%) und bei der medizinischen Versorgung. Außerdem bereiteten die Wohnungssuche, Anerkennung von Abschlüssen und Behördengänge Probleme.
Bei der Bewertung der Lebenszufriedenheit der geflüchteten Ukrainer ergab sich auf einer Skala von 0 bis 10 ein Durchschnittswert von 5,8. Berechnungen zufolge lag die Zufriedenheit der Deutschen im Jahr 2020 bei 7,5. Es zeigte sich zudem, dass Geflüchtete, die dauerhaft in Deutschland bleiben wollten und sich gut verständigen konnten, zufriedener waren.
Der höchste Anteil von Familien mit Minderjährigen war in der Altersgruppe von 20 bis 40 Jahren. Bei etwa 12 % der Familien mit minderjährigen Kindern lebte noch mindestens ein weiteres Kind im Ausland. 42 % der Mütter unter 50 Jahren wollten ihre Kinder nachholen, wenn diese noch im Ausland lebten. Etwa drei Viertel der durch den Krieg getrennt lebenden Frauen und 65 % der Männer hatten täglich Kontakt mit zum Partner oder zur Partnerin in der Heimat.
34 % der Geflüchteten wollten bis Kriegsende in Deutschland bleiben. Von ihnen planten 81 % danach wieder in die Ukraine zurückzukehren, 26% der Flüchtlinge wollten dauerhaft in Deutschland bleiben. 27% waren noch nicht sicher, ob und wie lange sie bleiben möchten.
Die Studie ist als Längsschnittbefragung geplant, ab Januar 2023 wird eine zweite Befragungswelle (nur online) durchgeführt. Erste ausführliche Ergebnisse sollen im Februar 2023 im Rahmen eines Forschungsberichts veröffentlicht werden. Langfristiges Ziel ist es, Erkenntnisse über ukrainische Geflüchtete zu ihrer Integrationserfahrung in Deutschland und zu ihren Rückwanderungsplänen zu gewinnen. Die Umfragen werden vom Institut für angewandte Sozialwissenschaft durchgeführt.