Von Russland entführt: Ukrainische Jugendliche erzählen ihre Schicksale
Stellen Sie sich vor, in Ihrem Land ist Krieg. Sie haben Ihr Zuhause verloren und unzählige Familienangehörige und Freunde wurden verletzt. Und das Schlimmste: der Feind, der Angreifer, der in Ihrem Land so viel Schmerz und Leid verursacht hat, hat Ihre Kinder mitgenommen!
Dies ist die tragische Realität, mit der Tausende (möglicherweise Hunderttausende) von Familien konfrontiert sind, seit Russland 2022 in die Ukraine einmarschiert ist. Es sind nicht nur Hunderttausende gestorben, Häuser, Krankenhäuser und Infrastrukturen wurden bombardiert, sondern Russland hat auch ukrainische Kinder ohne die Zustimmung der Eltern nach Russland verschleppt.
Im Juni 2023 teilte der Präsident der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj, den Medien mit, dass seit Februar 2022 über 200.000 ukrainische Kinder gewaltsam nach Russland oder in ein von Russland besetztes Gebiet gebracht worden seien. Allerdings scheint dies eine moderate Schätzung zu sein. Die ukrainische Präsidentenberaterin für Kinderrechte, Daria Herasymchuk, sagte den Medien, dass sie davon ausgeht, dass es bis zu 300.000 Kinder seien könnten.
Laut Radio Free Europe sagte die russische Kinderbeauftragte Maria Lwowa-Belowa in einem am 30. Juli 2023 veröffentlichten Bericht, dass mehr als 700.000 ukrainische Kinder aus der Ukraine nach Russland gebracht worden seien, seit es im Jahr 2014 zu Konflikten zwischen den beiden Ländern kam.
Natürlich besteht die russische Regierung darauf, dass alle diese ukrainischen Kinder auf ausdrücklichen Wunsch ihrer Eltern und Verwandten nach Russland gekommen seien.
Der OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) liegen jedoch Beweise dafür vor, dass Russland nicht einvernehmliche Evakuierungen durchgeführt hat, die laut OSZE Kriegsverbrechen darstellen.
Darüber hinaus erließ der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag im März 2023 einen Haftbefehl gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin und die russische Beauftragte für Kinderrechte, Maria Lwowa-Belowa, wegen ihrer Rolle bei diesen anhaltenden Kriegsverbrechen.
Jetzt kommen die Geschichten der Kinder ans Licht, die das Glück hatten, zurückgeholt zu werden. Und die Schicksale, die sie zu erzählen haben, sind zweifellos der schlimmste Albtraum aller Eltern.
Laut dem im Mai 2023 veröffentlichten Bericht der OSZE kann es sehr schwierig sein, ein ukrainisches Kind, sobald es nach Russland gebracht wurde, zurückzuholen: "Die Russische Föderation unternimmt keine Schritte, um die Rückkehr ukrainischer Kinder aktiv zu fördern.Vielmehr schafft sie verschiedene Hindernisse für Familien, die ihre Kinder zurückbekommen wollen".
Wie die Nachrichtenagentur Reuters berichtet, haben die ukrainischen Waisenkinder Ivan (17) und Maksym (16) in Den Haag erzählt, wie sie gewaltsam auf russisches Gebiet gebracht wurden.
Die beiden Teenager teilten zusammen mit vier weiteren ukrainischen Jugendlichen ihre Erfahrungen im Rahmen der Kampagne 'Bring Kids Back UA'. Die Initiative startete Mitte September und wird von der Orphans Feeding Foundation, einer niederländischen NGO, durchgeführt.
Ivan und Maksym waren beide Schüler an der Technischen Hochschule für Bauwesen in Mariupol, wo sie lebten und studierten. Als die Stadt jedoch von den Russen angegriffen wurde, zwangen die Bomben sie, im März 2022 zu Fuß zu fliehen.
In einem Interview mit Reuters sagten die Jugendlichen, dass sie im nächstgelegenen Dorf Schutz suchten und schließlich im örtlichen Krankenhaus landeten, da es keine andere Möglichkeit gab. Die beiden sagten den Krankenhausmitarbeitern, dass sie Waisen seien, woraufhin das Krankenhaus der russisch besetzten Stadt Donezk sowie der Kinderschutzdienst gerufen und die beiden weggebracht wurden.
Ivan sagte gegenüber Reuters: "Wir wollten nicht dorthin, aber wir hatten keine Wahl. Wir bekamen viermal in der Woche etwas zu essen. Wir verbrachten Zeit in unseren Zimmern und spielten mit unseren Handys. Wir durften nur eine Stunde am Tag nach draußen gehen, und das nicht jeden Tag. Wir hatten nichts zu tun".
Ivan und Maksym wurden monatelang festgehalten, ohne die Möglichkeit, Kontakt zu irgendjemandem aufzunehmen, den sie kannten, ebenso wie viele andere Kinder. Die beiden Jungen hatten keine große Hoffnung, jemals in die nicht besetzte Ukraine zurückkehren zu können, bis ihnen eines Tages der Bürgermeister von Donezk SIM-Karten schenkte.
Die Teenager hatten großes Glück, denn sie konnten Kontakt zum Schulleiter (und zugleich Erziehungsberechtigten) Anton Bilai aufnehmen, der verzweifelt nach den Jungen gesucht hatte.
Bilai erzählte Reuters von seiner bemerkenswerten Reise zur Rettung der Jungen. Er musste über 4.000 km durch Polen, Litauen, Lettland und dann durch Russland reisen, um zu Ivan und Maksym in Donezk zu kommen.
Anton Bilai sagte gegenüber den Medien: "Das waren die ersten Kinder, die aus dem besetzten Gebiet zurückgekehrt sind. Vor dem Krieg waren sie Waisen. Ich kann nur sagen, dass sie jetzt meine Kinder sind.“
Liza ist ein weiteres verschlepptes ukrainisches Kind, das Politico seine Geschichte erzählt hat. Im Herbst 2022 stimmte Lizas Mutter zu, dass ihre 16-jährige Tochter ausziehen und in einem Wohnheim an der örtlichen Berufsschule in Cherson leben durfte. Liza lernte Konditorin und wollte eine "normale" Ausbildung absolvieren, doch sowohl die Stadt Cherson als auch das Umland waren von den Russen besetzt.
Lizas Mutter erzählte Politico, dass ihre Tochter nur eine Woche nach Beginn des Unterrichts verschwunden sei, ebenso wie Dutzende ihrer Klassenkameraden."Durch einen Sozialdienst habe ich herausgefunden, dass sie alle in den Urlaub auf die Krim gebracht wurden. Aber ich hatte dafür keine Erlaubnis gegeben.“
Es wurde schnell klar, dass Liza nicht in einen gewöhnlichen Urlaub geschickt worden war... vor allem, als sie nach drei Monaten noch nicht zurückgekehrt war. Lizas Mutter erzählte Politico, dass ihre Tochter bedroht und gezwungen wurde, zum Studieren nach Henitschesk, einer von Russland besetzten Region der Ukraine, umzusiedeln.
Liza erzählte Politico, wie das Leben in Henitschesk aussah: "Es war so kalt in diesem alten Wohnheim. Wir waren von russischen Soldaten umzingelt. Wir durften die Türen in unseren Zimmern nicht schließen. Die Soldaten hätten auch nachts zu einer Kontrolle kommen können.“
Liza und alle anderen Dutzend Kinder in dem Wohnheim mussten einem russischen Lehrplan folgen und bekamen von den Soldaten Geschenke, wenn sie den Eindruck machten, eine pro-russische Einstellung zu haben.
Nach vielen Bemühungen fand Lizas Mutter ihre Tochter in den sozialen Medien und Liza erzählte ihrer Mutter, dass sie nun eine russische Telefonnummer habe und ihr ständig die russische Staatsbürgerschaft angeboten werde, was Liza ablehnte. Nach acht langen Monaten erfuhr Lizas Mutter, dass ihre Tochter vom russischen Staat zur Waise erklärt worden war.
Lizas Freundin erzählte Politico, dass die Russen als Befreier gesehen werden wollten, aber sie drohten auch damit, die Kinder zur Umerziehung nach Tschetschenien zu schicken, wenn sie sich nicht an die Regeln hielten. Liza und ihre Freundin sagen, dass sie immer wieder darum baten, nach Hause zu ihren Eltern geschickt zu werden, aber es kam nie etwas dabei heraus.
Als Lizas Mutter endlich mit Hilfe der NGO Save Ukraine die notwenigen Dokumente hatte, um die Russen zu zwingen, ihre Tochter freizulassen, musste sie durch die Europäische Union reisen, um ihre Tochter zu holen. Am 22. Mai 2023 durfte Liza endlich ausreisen.
Foto: saveukraineua.org
Die Geschichten von Liza, Ivan und Maksym sind fast identisch mit denen von Tausenden anderer Kinder und ihrer Erziehungsberechtigten. Ja, die Eltern hatten vielleicht zugestimmt, sie zu ihrer Sicherheit in ein Internat zu schicken, aber die Kinder wurden schnell mit Bussen an einen weit entfernten Ort gebracht, entweder in Russland oder in der von Russland besetzten Ukraine.
Dann wird ihnen der Kontakt zu ihren Familien verweigert und sie werden indoktriniert, was im Grunde einem Versuch des kulturellen Völkermords gleich kommt. Nach Angaben mehrerer NGOs, die an der Rettung verschleppter ukrainischer Minderjähriger beteiligt sind, wurden bisher nur etwa 400 Kinder mit ihren Familien wiedervereint.
In dem OSZE-Bericht vom Mai 2023 schreibt das Komitee: "Unabhängig von der Form der Unterbringung finden sich ukrainische Kinder in einem rein russischen Umfeld wieder, einschließlich Sprache, Bräuche und Religion. Sie sind [einer] pro-russischen Informationskampagne ausgesetzt, die oft auf eine gezielte Umerziehung hinausläuft, und werden in die militärische Ausbildung einbezogen."
Zweifellos hofft Russland, die ukrainische Kultur und Identität zu beseitigen, doch der Kreml sieht ukrainische Kinder auch als Mittel zum Zweck. Mariia Sulialina, Leiterin der Almenda, einer NGO, die Verstöße gegen die Rechte von Kindern dokumentiert, sagte gegenüber Politico: "Für Russland sind ukrainische Kinder eine Ressource. Sie wollen eine neue Generation heranziehen, die russische Werte verbreitet ... Sie brauchen eine neue Generation von Soldaten, um sie in den Krieg zu schicken."
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